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HR Management

Neurodiversität im Unternehmen: Definition & Chancen

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Wie kann Neurodiversität im Unternehmen gewinnbringend berücksichtigt werden?

Neurodiversität (oder Neurodivergenz) ist ein Begriff, der in den letzten Jahren immer häufiger genutzt wird. Er beschreibt Abweichungen von dem, was als neurologische Norm gilt, als andere Art des Seins – und eben nicht als Defizite oder Krankheiten. Die Vielfalt dieser Abweichungen birgt Risiken durch Unverständnis und Vorurteile, aber auch immense Chancen, wenn Unternehmen angemessen darauf eingehen.

Die wichtigsten Informationen zu Neurodiversität im Unternehmen

  • Neurodiversität ist ein Sammelbegriff für viele verschiedene Abweichungen der neurologischen „Norm“.
  • Die Zahl der neurodivergenten Menschen steigt nicht an, die Zahl der Diagnosen allerdings schon.
  • Neurodiverse Menschen haben andere Stärken und Schwächen als „neurotypische“ Menschen.
  • Sie können im Unternehmen passend zu ihren Fähigkeiten eingesetzt werden und die Teams entscheidend bereichern.
  • Wichtig ist dafür, dass einige Hürden im Bewerbungsprozess abgebaut werden, sodass die Betreffenden offen mit ihren Diagnosen umgehen.
  • Führungskräfte und Kolleg:innen sollten Schulungen erhalten, damit es nicht zu Missverständnissen und Diskriminierung kommt.
  • Neurodivergente Menschen profitieren von einigen Anpassungen am Arbeitsplatz.
  • Unternehmen, die als inklusive Arbeitgeber bekannt sich, verschaffen sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz – vor allem, weil das Bewusstsein für Neurodivergenz und die Bedürfnisse neurodiverser Menschen wächst.

Definition: Was ist Neurodiversität?

Unter Neurodiversität werden verschiedene Formen der Abweichung dessen zusammengefasst, was als mental oder neurologisch „typisch“ angesehen wird. In diesem Zusammenhang wird von „neurotypisch“ gesprochen, wobei der Begriff aber extrem schwammig ist – schließlich umfasst er ein breites Feld.

Es gibt verschiedene anerkannte Formen der Neurodivergenz, etwa:

  • AD(H)S
  • alle Formen des Autismus
  • Epilepsie
  • Legasthenie
  • Dyskalkulie
  • Dyslexie
  • Dyspraxie
  • Zwangsstörung
  • Angststörung
  • Tourette-Syndrom

Die Gehirne aller Menschen funktionieren in einem gewissen Rahmen unterschiedlich. Ein bestimmtes Spektrum wird als „normal“ empfunden. Menschen, die eine Form der Neurodivergenz haben, befinden sich abseits dieses Spektrums. Die Abweichungen können ganz verschiedene Bereiche betreffen – etwa die Lern- und die Denkweise, Motorik, Interaktion, Wahrnehmung, Sensitivität oder Sprache.

Werden neurodiverse Menschen mehr?

Plötzlich hören Sie es überall: Hier eine späte AD(H)S-Diagnose, dort ein autistisches Kind – kann es sein, dass die Zahl der neurodivergenten Menschen zunimmt? Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das nicht so. Eher ist davon auszugehen, dass endlich die Achtsamkeit für die Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen wächst und langsam ein Umfeld entsteht, in dem neurodivergente Personen ihre Andersartigkeit nicht mehr um jeden Preis verstecken müssen. Noch immer schlagen ihnen Vorurteile entgegen – aber immerhin haben die meisten Menschen inzwischen bereits von Neurodiversität gehört.

Die Palette der Merkmale der verschiedenen Formen von Neurodiversität ist breit. Den meisten Menschen sehen Sie nicht an, dass sie neurodivers sind. Es ist weder so, dass sie alle an starken Einschränkungen durch geistige Behinderungen leiden, noch so, dass sie alle heimliche Genies sind. Beides gibt es zwar ebenfalls, doch eben auch die breite Mitte derjenigen, denen Sie nichts anmerken.

Die Organisationspsychologin Nancy Doyle hat mit Genius Within ein Unternehmen gegründet, das auf die Inklusion von neurodiversen Menschen am Arbeitsplatz spezialisiert ist. Ihren Schätzungen nach sind zwischen 15 und 20 Prozent der Weltbevölkerung neurodivers.

Herausforderungen für neurodiverse Menschen im Arbeitsumfeld

Ein mehr oder minder geregelter Arbeitstag kann Menschen mit verschiedenen Formen der Neurodivergenz vor unterschiedliche Herausforderungen stellen, wie hier am Beispiel von AD(H)S und Autismus zu sehen ist:

  • Menschen mit AD(H)S sind oft unorganisiert, was vor allem der Reizüberflutung geschuldet ist. Da sie keine Filter haben und sich nicht gut abgrenzen können, werden sie von allem abgelenkt und verlieren häufig den Fokus. Sie haben Schwierigkeiten mit der Prioritätensetzung, vergessen oft Dinge oder kommen zu spät. Zudem langweilen sie sich schnell. In einem strukturierten Betrieb mit Deadlines und Absprachen können sie durch diese Symptome negativ auffallen.
  • Autistische Menschen hingegen benötigen feste Strukturen und kommen oft sehr gut in ihnen zurecht. Was ihnen eher Probleme bereitet, sind verschiedene Facetten der Kommunikation: Nicht immer sind sie imstande, Ironie zu identifizieren. Problembehaftet ist auch die nonverbale Kommunikation – es fällt ihnen teilweise schwer, Gestik, Mimik und Blicke zu deuten. Ihnen fehlt also oft der Zugang zu einer wichtigen Ebene der menschlichen Interaktion, wodurch sie den Kolleg:innen manchmal ungehobelt oder respektlos vorkommen.

Neurodivergente Menschen verarbeiten Informationen anders als diejenigen, die als neurotypisch gelten. Sie stehen oft dann vor Schwierigkeiten, wenn ein bestimmtes Verhalten von ihnen erwartet wird, das sie natürlicherweise nicht oder nur unter großer Anstrengung bieten können. Häufig unternehmen Betroffene diese Anstrengungen, allerdings können sie in einem Burn-out enden.

Strategien zum Verstecken der Neurodivergenz

Neurodivergente Menschen lernen oft schon von Kindesbeinen an, dass es nicht gut ist, „anders“ zu sein. Kinder sind häufig grausam zu Menschen, die sie nicht verstehen – und wer abseits der Norm ist, trifft zunächst einmal auf Unverständnis. Auch den Erwachsenen, die mit ihnen umgehen (Verwandte, Erzieher:innen, Lehrer:innen), fehlt oft das Wissen über Neurodivergenz und damit auch das Verständnis für bestimmte Verhaltensweisen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, erlernen neurodiverse Kinder daher frühzeitig das „Maskieren“. Sie verstecken diejenigen Verhaltensweisen, die bei anderen nicht gut ankommen, und ahmen das Verhalten anderer nach.

Im Laufe der Zeit wird dieses Versteckspiel immer professioneller. Viele neurodivergente Menschen verbergen ihre Form von Andersartigkeit so gut, dass die meisten Leute in ihrem Umfeld nichts davon mitbekommen. Dafür zahlen sie allerdings oft einen hohen Preis: Die heimliche Anpassung kostet viel psychische Kraft. Das Gefühl des Ausgebranntseins und der Verzweiflung ist vielen Betroffenen bekannt, ebenso das Hadern mit der Überzeugung, nie gut genug zu sein.

Besonderheiten können Vorteile sein

Dass menschliche Gehirne nicht komplett der gewohnten Norm getreu funktionieren, muss nichts Schlechtes sein – je nach Anforderung können die Abweichungen als Schwäche oder als Stärke dienen.

Aufmerksame Arbeitgeber können die Besonderheiten ihrer neurodivergenten Mitarbeiter:innen im besten Sinne fördern und nutzen:

  • Angestellte mit ADHS haben im Normalfall viel Energie, sind bereit zum Multitasking und zum flexiblen Arbeiten, liefern kreative Ideen und neue Standpunkte und sind in einem hohen Maße risikobereit. Speziell in einem Umfeld, das Innovationen fördert und Raum zum Ausprobieren und für Fehlschläge lässt, können sie über sich hinauswachsen und das Unternehmen voranbringen.
  • Autistische Mitarbeiter:innen hingegen haben häufig die Fähigkeit, große Mengen an Informationen schnell aufzunehmen und die wichtigsten Punkte zu identifizieren. Sie neigen weniger zu Fehlern als „neurotypische“ Menschen und arbeiten im Durchschnitt produktiver. Es fällt ihnen leicht, Muster zu erkennen, und sie haben einen guten Blick für das Detail. Aufgaben (auch repetitive), die Genauigkeit, Sorgfalt und Fleiß erfordern, sind bei ihnen in den besten Händen.

Damit die Besonderheiten der neurodivergenten Angestellten genutzt werden können, müssen Arbeitgeber ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem sich die Mitarbeiter:innen wohl genug fühlen, ihre Neurodiversität nicht zu verbergen.

Ist sie bekannt, können sorgsam geschulte Führungskräfte die passenden Stellen für die betreffenden Angestellten finden. Ebenso, wie sie an einer unpassenden Stelle Fehler machen und den Fortschritt beeinträchtigen können, können sie das Unternehmen an der richtigen Stelle nicht nur unterstützen, sondern auch voranbringen – sie werden zum Wettbewerbsvorteil.

In einem Team, in dem alle Mitglieder recht ähnlich denken, ist niemand da, der einen anderen Blickwinkel einnimmt oder originelle Vorschläge macht. Es besteht keine Notwendigkeit, über den Tellerrand zu blicken. Neurodivergente Teammitglieder verlassen ausgetretene Pfade und bringen neue Ansichten und frischen Wind in den Arbeitsalltag. Gemischte Teams arbeiten innovativer und fruchtbarer.

Neurodiversität als Ressource verstehen

Da neurodiverse Angestellte dem Unternehmen bei richtigem Einsatz, respektvollem Umgang und angemessener Förderung sehr nützen können, ist es im Interesse der Arbeitgeber, sie ins Boot zu holen. Dafür sind allerdings einige Extraschritte nötig – alle Menschen nach Schema F zu behandeln, klappt nicht, da neurodivergente Menschen leicht durch die Raster fallen, die für „neurotypische“ Personen ausgelegt worden sind.

Für die Integration und Förderung neurodiverser Menschen sind Anpassungen an verschiedenen Stellen nötig.

Den Recruitingprozess anpassen:

In einem herkömmlichen Bewerbungsgespräch oder Assessment-Center haben neurodiverse Menschen im Normalfall wenige Chancen. Selbst mit guten Abschlüssen überzeugen sie häufig im menschlichen Miteinander zunächst weniger als „neurotypische“ Menschen. Das kann an Kleinigkeiten liegen wie einem fehlenden oder seltenen Blickkontakt, an nicht besonders ausgeprägter Eloquenz oder daran, dass die Person nicht leicht lächelt.

Viele neurodiverse Menschen halten wohlweislich beim Bewerbungsprozess die Information zu ihrer Andersartigkeit zurück. Die meisten haben bereits Erfahrung mit Diskriminierung und Ausgrenzung gemacht. Schaffen Sie es, sie davon zu überzeugen, dass sie sich den Personaler:innen anvertrauen, ist der Grundstein gelegt für eine fruchtbare Zusammenarbeit.

Die Personalabteilungen in größeren Unternehmen, die bereits seit Längerem auf die Anwerbung neurodiverser Fachkräfte setzen (etwa SAP, Microsoft oder Ford), haben entsprechende Schulungen bekommen. Die Unternehmen machen es neurodivergenten Menschen leicht, sich zu bewerben und dabei offen mit ihrer Andersartigkeit umzugehen. Sie wissen, dass sie hier ihre Schwächen offen thematisieren, aber auch ihre Stärken unterstreichen können. Die Personaler:innen kennen die Kommunikationsmuster, die von den eigenen abweichen, und interpretieren das Verhalten nicht falsch.

Führungskräfte schulen:

Nicht nur Recruiter:innen, sondern auch Führungskräfte müssen lernen, für unterschiedliche Kommunikationsmuster offen zu sein:

  • Zurückhaltung bedeutet nicht unbedingt Ablehnung,
  • die Vermeidung von Blickkontakt ist kein sicheres Zeichen von Schüchternheit und
  • die Unterbrechung im Gespräch wegen eines Gedankenblitzes ist kein Zeichen von Respektlosigkeit, sondern von ehrlichem Interesse am Thema.

Je jünger die Führungskräfte sind und je früher sie mit ihnen selbst unvertrauten Kommunikationsmustern in Berührung kommen, desto leichter fällt ihnen die Umsetzung des Gelernten. Gerade ältere Führungskräfte, die viel Erfahrung mitbringen, tun sich mit dieser Umgewöhnung manchmal schwer. Sie müssen sich mit neuen Konzepten und Interpretationsweisen vertraut machen und Vorurteile abbauen, von denen sie vielleicht noch nicht einmal selbst wissen.

Arbeitsumgebung anpassen:

Speziell für Personen, die ungefiltert alles aus ihrer Umgebung aufnehmen, ist die Arbeit im Großraumbüro unfassbar anstrengend. Falls es nicht möglich ist, kleinere Räume zur Verfügung zu stellen, helfen beispielsweise Geräte wie Noise-Cancelling-Kopfhörer oder auch räumliche Abtrennungen zwischen den einzelnen Tischen – etwa durch Pflanzen. Auch dimmbares Licht ist eine gute Möglichkeit, um den Reizüberfluss einzuschränken. Hier sind die wichtigsten Informationen zur Arbeitsplatzgestaltung für neurodivergente Mitarbeiter.

Falls es möglich ist, sollten unterschiedliche Räumlichkeiten für die Pausen zur Verfügung gestellt werden – ein Beispielkonzept:

  • Eine gesellige Kaffeeküche etwa, wo Angestellte gemeinsam mittags essen und sich austauschen können
  • Ein kleinerer Pausenraum für diejenigen, die lieber ihre Ruhe möchten

Viele der neurodivergenten Menschen, die ein Problem mit zu vielen anderen Leuten auf engem Raum haben, begrüßen die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Hier ist ihr Safe Space, hier kennen sie sich aus. Zudem können sie hier sicher sein, dass keine Kolleg:innen neben ihnen schwatzen oder mit ihnen die Mittagspause verbringen möchten.

Coachings für die Kolleg:innen:

Wie Recruiter:innen und Führungskräfte müssen auch die anderen Angestellten eine Einweisung bekommen, wie sie das Benehmen neurodiverser Kolleg:innen einordnen können. Hier eignet sich eine allgemeine Schulung zum Thema, keine extra auf eine besondere Person zugeschnittene. Es geht nicht darum, Menschen auf einen Ausnahmefall vorzubereiten, sondern das Bewusstsein dafür zu wecken, dass es viele Facetten von Neurodiversität gibt.

Gute Schulungen in diesem Bereich bauen Vorurteile ab, erklären Tatsachen und helfen dabei, mit offenem Geist auf andere Menschen zuzugehen. Nicht selten erklären später vertraute Kolleg:innen, dass sie sich teilweise in den Erläuterungen wiedergefunden haben und dass sie das Verhalten nicht nur nachvollziehen können, sondern von sich selbst kennen. Die Zahl der neurodivergenten Angestellten, die nie über das Thema spricht, ist verhältnismäßig hoch.

Fazit: Geförderte Neurodiversität im Unternehmen ist wirkungsvolles Employer Branding

Wer sich als Arbeitgeber jetzt darauf einstellt, ein gesundes und förderliches Umfeld für neurodiverse Personen zu erschaffen, tut seinem Unternehmen in mehrerlei Hinsicht etwas Gutes: Neben der Sicherung vielfältiger Talente werden auch die Weichen gestellt für eine Zukunft, in der das Unternehmen bekannt ist als inklusiver Arbeitgeber.

Das kann im War for Talents noch entscheidend werden. Die Zahl derer, die jenseits des als neurotypisch geltenden Spektrums funktionieren, ist in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Das bedeutet nicht, dass es mehr Menschen werden – es bedeutet lediglich, dass die Diagnosen häufiger gestellt werden.

Es handelt sich aber nicht um sogenannte Mode-Diagnosen. Während früher vom „Zappelphilipp“ die Rede war oder ein bisschen spöttisch erklärt wurde, dass ein Mensch zwar sehr intelligent, aber sozial nicht ganz auf der Höhe sei, ist das heute anders. Neurodiverse Personen, die sich ihr Leben lang mit Anpassung durchgekämpft und sich immer gefragt haben, was mit ihnen „falsch läuft“, bekommen teilweise sehr spät eine Diagnose und eine Erklärung.

In vielen Fällen ist es eine Erleichterung. Sie sind nicht allein „anders“ oder „seltsam“ – ihre Kondition hat einen Namen. Und: Es gibt Leute, die sie teilen. Sie können sich vernetzen, sich austauschen und sich Tipps geben. Inklusive Arbeitsstellen sorgen dafür, dass neurodivergente und „neurotypische“ Menschen offen und bewusst zusammenarbeiten und viel übereinander erfahren. Als Arbeitgeber können Sie dazu beitragen, dass neurodiverse Teams zur Normalität werden – und sich damit selbst ein exzellentes Zeugnis ausstellen.

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